Der Julierpass hat es schwer, sich gegen die unmittelbar im Osten verlaufende Konkurrenz des zweifellos für Biker etwas interessanteren Albulapasses zu behaupten. Dennoch hat dieser in Nord-Süd-Ost-Richtung verlaufende Pass seine ganz eigenen Reize. Er verbindet das Oberengadin von der Seenplatte bei Silvaplana mit dem Albulatal bei Tiefencastel. Während auf dem Hochplateau der Oberengadiner Seen, am Silvaplaner See, der Surftourismus blüht, während in mondänen oberengadiner Orten wie St. Moritz der Rummel wütet, herrscht auf der anderen Seite im Albulatal mit seinen steilen Felswänden eine Ruhe, die hauptsächlich durch den Passverkehr und durch die Transitreisenden in der Saison nachhaltig gestört wird. Das ist somit auch das Hauptproblem des Julier: Er ist Hauptverbindungsstrecke und Alpenüberquerung seit der Antike, wovon heute noch steinerne Zeugen in Form von Säulenresten künden, die an der Strasse zu finden sind. Der abseits liegende Albula hat dieses Problem nicht. Nichtsdestoweniger lohnt eine Passfahrt auf den Julier! Es ist weniger die Strasse, die schweizerisch gut ausgebaut ist und fahrerisch wenig Ansprüche an Material und Können stellt, sondern es ist die grandiose Umgebung und die wunderschönen Stationen, die zu durchfahren sind auf diesem alten Pass, die eine Querung lohnenswert machen. Der Julier hat eine Gesamtlänge von 45 Km, wartet mit einer Steigung von max. 11% auf und erreicht eine Höhe von 2284m. Er hat charakteristische treppenartige Steigungen, die von hochflächenartigem Gelände unterbrochen werden. Er wird ganzjährig offen gehalten, ein weiteres Indiz für seine verkehrstechnische Bedeutung. Erbaut wurde die moderne Trasse 1820-1840.
Wir beginnen unsere Fahrt in Tiefencastel, Kanton Graubünden auf 851m. Über mehrere Tunnel und Galerien führt die breite Strasse bergan. Oberhalbstein heisst der Ort, der zunächst auf unserem Weg liegt. Der Ortsname steht für das gesamte Tal, das sich bis zur Passhöhe fortsetzt. Es empfiehlt sich übrigens, die neue Strasse zu verlassen und die alte Strasse über die Dörfer Mon, Salouf und Riom zu fahren, dort gibt es sehenswerte Plätze und Kirchen.
Bei Cunter treffen wir erneut auf die ausgebaute Route und folgen ihr nach Savognin. Der Pass hat bis hierher kaum an Höhe gewonnen. Um uns herum sehen wir eine Landschaft wie gemalt, wer Segantinis Bilder kennt, wird hier den Charakter seiner Kunst, der durch diese Umgebung inspiriert wurde, unmittelbar erfahren können. Savognin ist ein alter Umschlagplatz am Julier. Drei schöne Kirchen stehen in dem aus drei Dörfern zusammengefassten Hauptort des Tales, der heute vorwiegend vom Tourismus lebt. Im Ortsteil Sur curt sei es die schönste Barockkirche Graubündens sagt man, die mit einer herrlich bemalten Kuppel aufwartet. Wer übrigens den Naturmaler Giovanni Segantini nicht kennt und hier in seiner Heimat herumfährt, dem sei ein Besuch in der Sala Segantini empfohlen, es lohnt sich. Ebenso lohnenswert ist ein Besuch des örtlichen Heimatmuseums, das in einem typischen Oberhalbsteinischen Bauernhaus untergebracht ist.
Entlang des Flüsschens Gelgia erreichen wir als nächste Station das Dorf Tinizong. Hier steht ein Kirchlein mit einem schönen Schnitzaltar aus dem 17. Jh. Anschliessend geht es durch das sich verengende Tal in mehreren Kehren bergan, wir passieren Rona, Mulegns, Fumatsch und stehen unvermittelt an der Staumauer des Lai da Marmorera, 70m hoch und grasbewachsen. Vor uns öffnet sich eine grosse Wasserfläche. Man kann nicht ahnen, dass auf dem Grund des Sees die Dörfer Cresta und Marmorera liegen, die überflutet und der Elektrizitätsgewinnung geopfert wurden. Die Wassermassen des Sees werden bis nach Tiefencastel durch die Turbinen geleitet. Auf einer Bergterrasse liegt die Alp Flix, 1840m, die man über ein schmales Strässchen erreicht (von Mulegns Richtung Sur), drei Seen warten und eine unvergleichliche Aussicht, eine kleine Maut ist fällig.
Die Passtrasse folgt jetzt dem östlichen Ufer des Marmorera-Sees, bevor sie zum Bergdorf Bivio ansteigt. Man ist hier an einem Kreuzungspunkt zweier Wege angekommen, die in Urzeit zurückreichen: Der Julier trifft hier auf den Septimer-Pass. Bivio heisst 'zwei Wege', man spricht ein eigenes Idiom, das rätoromanische Biviano. Ein Kuriosum in der kleinen Gemeinde ist auch, dass die Kinder bis zur dritten Klasse in italienisch, danach auf deutsch unterrichtet werden. Unser Weg strebt nun in hochalpines Gelände. Der Pass steigt durch eine steinige Landschaft in wenigen Serpentinen und langen Geraden zur Passhöhe auf. An der Strasse stehen zwei verwitterte Säulen aus der Römerzeit. Sonst ist es hier oben recht unspektakulär, sieht man vom Ausblick auf den mächtigen Piz Platta (3392) einmal ab. Ein lohnendes Plätzchen ist das Restaurant unterhalb der Passhöhe im Oberhalbsteintal, von der Terrasse übersieht man das Tal. Hinter der Passhöhe senkt sich die Strasse sanft in langen Geraden hinunter ins Oberengadin. Wenige Kurven und Serpentinen im Tal der Ova dal Vallun noch gefahren und wir stehen nach phantastischen Ausblicken auf das Bernina-Massiv und den Silvaplaner See in Silvaplana.
Nun wird die Reise entweder über den Maloja zum Comersee oder über den Bernina ins Poschiavo nach Süden, über das Inntal nach Osten oder über den Albula zurück nach Norden führen. Grosse Pässe, die Kulturwege Europas sind und die zur Weiterfahrt einladen. Oder man bleibt einfach da am Fusse des östlichsten Viertausenders der Alpen in einer der schönsten Gegenden der Schweiz.