Sechster Tag:


 Tallinn - Pärnu - Häädemeeste (167 Km)


Die Bikes im Dauerregen
Der Tag beginnt trübe. Draussen regnet es ohne Unterlass, aber wir lassen uns nicht die Laune verderben, sondern sind auf diese interessante Stadt gespannt, die wir heute besichtigen wollen. Schnell das Frühstück verdrückt, in die Regenklamotten gezwängt und schon geht's los Richtung Innenstadt. Zur Orientierung verwenden wir wieder die Karte des jungen Russen, die uns ohne weitere Umwege direkt in die Altstadt zurückführt. Der Regen rinnt ohne Unterbrechung. Das glitschige Kopfsteinpflaster, das in der gesamten Innenstadt die Seitenstrassen bedeckt, erfordert vorsichtige Fahrweise. Nachdem wir ein Parkplätzchen gefunden haben, stellen wir fest, dass unsere Ausrüstung bezüglich des schlechten Wetters unzureichend ist und beschliessen, erst einmal Regenschirme zu kaufen. Im zentralen Kaufhaus erstehen wir zwei italienische Modelle, die praktisch, da zusammenklappbar sind. Meiner allerdings klappt wie von Geisterhand getrieben automatisch auf, immer dann, wenn man es eigentlich nicht erwartet, aber immerhin war der Preise sehr moderat für das gute Stück, wie bisher alles sehr günstig war.

Die Oberstadt
So gerüstet, machen wir uns auf den Stadtrundgang. Als wir gerade von den Motorrädern weglaufen wollen, kommt eine junge Frau mit zwei Kindern auf uns zu und fragt in leidlichem Englisch, woher wir kommen und wohin wir wollen. Wie es sich herausstellt ist sie grosser Motorradfan, kommt aus der nordöstlichen Stadt Tartu und bedauert es sehr, dass wir nicht vorhaben ihre Stadt zu besuchen. Ihre Kinder, ca. im frühen Schulkindalter, wollen unbedingt unsere Bikes laufen hören und so werfen wir die Motoren an und sie sind voll des Glücks und lachen, wie es nur Kinder können. Warum erzähle ich das? Nun, es steht stellvertretend für die vielen Begegnungen, die wir im Baltikum, v.a. in Estland machen durften und die uns die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen demonstrierte. Man braucht keine Sorge zu haben, auch wenn man die Sprache nicht versteht, so wird eine Kommunikation durch die Freundlichkeit der Einheimischen trotzdem jederzeit möglich. Zurück zur Stadt:

Tallin in Kürze:

Der Name stammt von Taani Linn ab, was dänische Stadt bedeutet und darauf hinweist, dass Tallinn eine dänische Gründung aus dem Jahre 1154 ist. Später wurde aus dem dänischen Namen Revele das bekannte Reval. 1219 begann eine 770 Jahre dauernde Fremdherrschaft, zuerst waren es Dänen, dann der deutsche Schwertritterorden, der aus der Stadt ein blühendes Handelszentrum als Mitglied der Hanse machte. Im Schutze der Burg, die auf der Höhe gebaut ist, entwickelte sich das bis heute erhaltene doppelte Stadtbild, die Ober- und Unterstadt. Oben logierten die Bischöfe, Adlige und Ritter, unten wohnte das Volk, Kaufleute, von denen einige zu erheblichem Reichtum gelangten. So kam es auch zu blutigen 'Kriegen' zwischen Ober- und Unterstadt, was zum Bau massiger Wehranlagen führte, die die Kontrahenten trennten. Mit dem Zerfall des Ordensstaates verlor Tallinn im 17. Jahrhundert seine Bedeutung und gelangte 1710 unter russische Besatzung. Aus dieser Zeit stammen die barocken Bauten. Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt zu einem russischen Hafen und nach Bau der Eisenbahn ein wichtiges russisches Handelszentrum. Erst 1918 wurde Estland vorübergehend unabhängig. Die heutige Regierung Estlands hat ihren Sitz in der Oberstadt, im ehemaligen Schloss. Heute ist Tallinn die Hauptstadt von Estland, liegt an einer Bucht des Finnischen Meerbusens und hat 415300 Einwohner. Sie ist kultureller und wirtschaftlicher Mittelpunkt Estlands, evangelischer Erzbischofssitz, beherbergt die Estnische Akademie der Wissenschaften, mehrere Universitäten, ein Konservatorium u.a. Hochschulen, zahlreiche Museen und Theater sowie die Estische Philharmonie. Neben einem botanischen und zoologischen Garten findet man hier noch baltische Filmstudios aus der Sowjetzeit. Alle fünf Jahre begeht man ein riesiges Sängerfest (20000 Teilnehmer), gegenüber dem die deutschen Fischer-Chöre wie amateurhafte Kleingruppen wirken. Gepflegt wird vor allem das einheimische Liedgut, das in seiner Vielfalt an Liedern nirgendwo sonst erreicht wird. Wirtschaftlich dominieren Schiff- und Maschinenbau, elektrotechnische, Textil-, Papier-, chemische, pharmazeutische und Nahrungsmittelindustrie sowie Druckereigewerbe. Tallinn ist Verkehrsknotenpunkt und verfügt über einen grossen Fischereihafen, den neuen Hochseehafen Muuga, den Stadthafen mit Fährverkehr zu mehreren Ostseehäfen sowie über einen internationalen Flughafen. Im Nordosten der Stadt liegt ein berühmtes Seebad.
Das Stadtbild verfügt über alle architektonischen Zeugnisse der Vergangenheit, vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Verwinkelte Strassen und enge Gässchen sind typisch. Ein russischer General wollte die Stadt deswegen sogar ganz abreissen lassen, weil er mit seinen Kutschen so schlecht durchkam. Im 2.Weltkrieg wurde Tallinn stark zerstört, danach wurden die Strassenzüge nach einer Bauaufnahme des 18. Jahrhunderts rekonstruiert. Sehenswert sind der beherrschend über der Stadt liegende Domberg (48m über dem Meeresspiegel) mit Befestigungsanlagen des 13.Jahrhunderts und der Domkirche aus dem 13. - 15.Jahrhundert, die Rosenkranzkapelle aus der Mitte des 15.Jahrhunderts. In der befestigten Altstadt laden die Pfarrkirche Sankt Nikolaus (um 1280, Umbau 15. - 16.Jahrhundert), die Heiliggeistkirche (14.Jahrhundert) mit Altar von B.Notke (1483), die Olaikirche (13./14.Jahrhundert; im 15.Jh. umgebaut, nach Bränden im 17. und 19.Jh. erneuert), das Rathaus (14./15.Jahrhundert) und das Schwarzhäupterhaus (15./16.Jahrhundert), Sitz einer mächtigen Kaufmannsgilde, zur Besichtigung ein. Vor der Stadt liegt das ehemalige Schloss Katharinental, Kadriorg, 1718 - 1723 für Peter den Grossen erbaut, das heute ein Museum ist. Nicht zu vergessen die permanente Ausstellung über die sowjetischen Gräuel nach 1945, die direkt gegenüber der russischen Botschaft in der Altstadt von Tallinn abgehalten wird. Hier sind Gefängniszellen und Foltermethoden der Geheimpolizei ausgestellt und rekonstruiert.

Wir gehen in der Oberstadt, auf dem Domberg, los und haben erst einmal einen grossartigen Blick von der Burgmauer über die gesamte Stadt, die allerdings im Dunst liegt, Wolken hängen bis an die Kirchtürme herunter. Beeindruckend ist auch die Alexander-Newski-Kathedrale der russisch-orthodoxen Kirche auf dem Domberg. Hier wird gerade ein Gottesdienst zelebriert und wir drücken uns still in ein Eck und hören den Litaneien zu. Es geht allerdings zu wie in einem Basar, aber das ist wohl normal, der Pope lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Nachdem wir den Domberg besichtigt haben, hier steht übrigens auch das Haus der deutschen Minderheit, kehren wir in ein kleines Café ein. Der Wirt erklärt uns, dass wir im Halteverbot stehen, bietet aber sofort an, unsere Bikes auf seinem Grund sicher zu plazieren, was wir gerne tun. Im Café treffen wir einen betrunkenen Finnen, der in der Nacht zuvor in ebenjenem Zustand niedergeschlagen und beraubt worden war. Er klagt uns lallend sein Leid und schimpft über die Esten wie ein Berserker. Nun verpasst er noch noch sein Schiff, vielleicht sollte er einfach weniger trinken??

Tallin vom Schloss aus gesehen

Blick vom Domberg in die Unterstadt

Alexander-Newski-Kathedrale

Der lange Domberg
Wir jedenfalls können uns über estische Gastfreundschaft nicht beklagen und lassen unsere ganze überflüssige Motorradausrüstung beim Wirt, der darauf aufpassen will und gehen über eine von hohen Mauern umgebene Gasse, den langen Domberg, hinab in die Unterstadt. Die Tallinner Altstadt empfängt uns mit einem massigen Stadttor, das in enge Gassen und verwinkelte Strässchen führt. Der Regen hat nun aufgehört und wir spazieren auf den berühmten Rathausplatz, ein mittelalterliches Ensemble, wunderschön restauriert und bei schönem Wetter mit vielen Cafés zum Draussensitzen. Heute sitzt hier allerdings kein Mensch. Beeindruckend finde ich das Rathaus sowie die älteste Apotheke der Region aus dem 15. Jh., die mit Originalutensilien aufwartet. Wir gehen weiter durch die engen Gassen und besichtigen die Olai-Kirche, die mit ihrem 156m hohen Turm das Stadtbild prägt. Sie stammt aus dem 13. Jh. Direkt gegenüber der russischen Botschaft befindet sich eine permanente Ausstellung zum Juni 1941, als die Sowjets Zehntausende Esten deportiert, gefoltert und getötet haben. Sie ist leider nur auf Estisch und so verstehen wir es nur sehr schlecht. Interessant ist das Portal des Schwarzhäupterhauses, einer Kaufmannsgilde aus dem 14. Jh. Man findet noch etliche Häuser, die eine deutsche Inschrift tragen, was den lange Jahre währenden Einfluss der deutschen Ritter, Kaufleute etc. demonstriert.

Verwinkelte und....

....steile Gässchen

Der Rathausplatz

Die mittelalterliche Stadtmauer

Häuser an die Stadtmauer gebaut
Nachdem wir noch die Stadtmauer mit ihren Türmen, wovon jeder Einzelne einen eigenen Namen trägt, besichtigt haben, kehren wir in unser Café zurück und beratschlagen, ob wir unseren Tourenplan abändern und schon früher Richtung Süden fahren sollen. Immerhin soll das Wetter dort langsam besser werden. Eigentlich wollten wir in Tallinn noch einen Tag bleiben und uns die Umgebung, Kadriorg, Nömme und Pirita ansehen. Aber wir entschliessen uns dann doch in den Süden des Landes zu fahren, nach Pärnu, um dann weiter zu entscheiden. Gesagt, getan, wir nehmen Abschied von dieser schönen Stadt und begeben uns auf die Hauptstrasse Richtung Pärnu/Riga. Wir tanken an einer Neste-Tankstelle. Der finnische Staatskonzern beherrscht das Tankstellennetz in Estland, man hat nirgends Probleme Markensprit zu tanken. Unser Weg führt über die Aussenbezirke auf einer breiten, gut asphaltierten Strasse ins freie Land.

Estische Landschaft

Hauptstrasse Tallinn - Pärnu
Das Wetter hat ein Einsehen und es bleibt trocken, der Himmel reisst sogar hie und da auf. Die Landschaft ist flach, voll sattem Grün und reichlich bewaldet, der Verkehr ist spärlich, Biker sehen wir keine. Wir fahren auf der Hauptstrasse A4 südwärts. In Märjama machen wir einen kurzen Halt und kommen dann gegen frühen Nachmittag in Pärnu an. Bisher haben wir etwa 130Km zurückgelegt. Pärnu strahlt eine beinahe südliche Atmosphäre aus. Die Stadt ist der Badeort der Esten an der Ostsee und war im 19. Jh. ein mondäner Kurort. Man fährt über den gleichnamigen Fluss Pärnu und steht im Zentrum des 60.000 Einwohner Städtchens. Auch hier prägten Schifffahrt und Handel die Geschichte, ein deutscher Friedhof zeigt die mitteleuropäischen Einflüsse über Jahrhunderte. Die eleganteste orthodoxe Kirche des Landes, die Katharinenkirche, sollte man unbedingt besichtigen. Interessant ist auch das sog. Talliner Tor, ein Überbleibsel der Stadtbesfestigung. Die Häuser sind in Holzbauweise gefertigt, klein aber hübsch, darunter mischen sich wenige Steingebäude und Backsteinbauten. Wer mondäne Strandhotels gucken will, ist am Sandstrand der Ostsee richtig, hier stehen die vergilbten Kästen aus dem 19. Jh. in Reihe zur Besichtigung. Jede Menge Cafés laden ein und wir setzen uns ins Zentrum und essen eine Kleinigkeit.

Pärnu Zentrum mit der Elisabethkirche

Die Innenstadt
Der Wettergott hat noch mehr Mitleid mit uns bekommen und es wird richtig warm. Wir haben Lust, noch etwas Motorrad zu fahren und beschliessen nach einem Bummel durch die schöne Fussgängerzone von Pärnu, uns ausserhalb nach Quartier umzusehen. Der Weg führt wieder nach Süden.

Eine heidnische Kultstätte am Wegesrand

Über Sandpisten entlang der Ostsee
Hinter Pärnu verlassen wir uns auf die Karte und biegen auf kleine Strässchen entlang der Ostsee ein, Sandpisten. So kurven wir durch den Wald, manchmal sinkt die Suzi allerdings doch recht tief ein, wir haben auch eine Menge Gepäck dabei. Langsam wird der Spass etwas mühsam und wir sind froh, als wir wieder auf einer kleinen, aber immerhin asphaltierten, Strasse fahren. Wir befinden uns nun auf der berühmten Via Baltica, jener Strasse, die entlang der Küste nach Süden führt. Estland verfügt über eine Reihe von Vorzügen, dazu gehören die kleinen Hostels, Holzhütten an den Seen und der Ostsee, die man praktisch überall findet und die preiswerte Zimmer haben. So biegen wir bei dem Ort Häädemeeste wieder in den Wald Richtung Ostsee ab und finden ein wunderschönes Quartier direkt am Meer, direkt an der Rigaer Bucht. Wie in einer Badewanne liegt das Wasser da, still und ruhig. Das Abendessen ist gut und reichlich, auch preisgünstig keine Frage, und wir werden Zeugen einer weiteren estischen Vorliebe, der für das Singen. Eine Gruppe älterer Herrschaften stimmt aus vollem Halse Volkslieder an und nicht immer richtig in der Tonlage, aber aus vollem Herzen, werden wir stimmlich in den Abend begleitet.

Die Rigaer Bucht....

....weiter, einsamer Strand



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