Fünfter Tag:


 Tallinn


Sonnenaufgang über der Ostsee
Nach einer unruhigen Nacht beginnt es im Osten wieder heller zu werden. Unser verschlafener Blick gilt vor allem dem Wetter. Die See hat sich beruhigt, der Himmel ist wolkenverhangen. Ein kurzer Blick nach draussen bestätigt den Eindruck: Es ist kalt und regnerisch. Ein eisiger Wind weht. Die Prognosen lassen für das Baltikum schlechtes Wetter erwarten. Wir nehmen am Frühstücksbuffet teil, unser finnischer Kollege, der in Nordfinnland lebt, unterhält uns und langsam kehren die Lebensgeister zurück. Wir haben noch viele Stunden Fahrt vor uns und wollen daher die Zeit mit etwas Lesen und Plaudereien vertreiben. Duty Free einkaufen fällt aus, da der Dampfer unter finnischer Flagge fährt und finnische Duty-Free-Preise gelten. Die sind so hoch, wie bei uns die Ladenpreise inkl. Steuern nicht.
Gegen 16:00 Uhr kommt tatsächlich die markante Silhouette der estischen Hauptstadt Tallinn, ehemals Reval, in Sicht. Wir stehen von nun an der Reling und beobachten den Lotsen, der von einem kleinen Schiff aus an Bord der Fähre kommt, um sie sicher in den Hafen zu bringen. Die Finnjet macht langsame Fahrt und gemächlich gleitet das Schiff auf die Stadt zu. Die aufragenden Türme sind die Wahrzeichen der alten Hansestadt und ich bin einigermassen aufgeregt, je näher wir kommen. Es weht ein scharfer Wind und die Meteorlogen hatten ja ein stabiles Tiefdruck- und Regengebiet über dem Baltikum vorausgesagt. Wir können Schnellboote Richtung Skandinavien beobachten, die in rasantem Tempo auf die Ostsee fahren, während sich unser Schiff in den Hafen manövriert. Nachdem es angelegt hat, gehen wir die sieben Stockwerke hinunter, um unsere Bikes startklar zu machen. Sie haben die Fahrt gut verzurrt ohne Blessuren überstanden und wir schwingen uns auf und nach kurzer Wartezeit befahren wir estischen Boden.

Die Skyline der estischen Hauptstadt

Das Lotsenboot

Schnellboote nach Skandinavien
Nun heisst es sich in die Warteschlange am Zoll zu stellen. Je kleiner das Land, um so ausgedehnter die Kontrollen, dieser Satz stimmt auch hier. Neben uns sind noch vier PKW, die einreisen wollen. Insgesamt vergeht eine Dreiviertelstunde, dann sind die Formalitäten erledigt und wir dürfen passieren. Durchsucht wurden wir nicht, warum das solange gedauert hat, weiss nur der Heilige Bürokratius. Ab jetzt beginnt der Krieg gegen die Beschilderung: Zuerst verfahren wir uns einmal kräftig und landen ungewollt mitten in der Altstadt. Die wollten wir eigentlich erst morgen besichtigen, aber der erste Eindruck lädt zu einem längeren Aufenthalt ein. Ausserdem brauchen wir schon wieder einen Kaffee.

Geschafft: Estische Grenzkontrolle

Kopfsteinpflaster und alte Häuser: Altstadt Tallinn
Da sehen wir ein Café mit der Gelegenheit draussen zu sitzen und parken die Motorräder um einzukehren. Für die erste Nacht hatten wir ein Hotel, das hier Hotell heisst, bereits von zu Hause gebucht. Nun wollen wir uns über den Weg dorthin klar werden und wälzen den Stadtplan. Nachdem die freundliche Bedienung des Lokals uns einen Kaffee, übrigens einen sehr guten italienischen Crema, gebracht hat, bietet sie uns ihr Telefon an, um mit dem Hotell zu kontaktieren, was wir auch tun. Die Wegbeschreibung, die wir erhalten, lässt nichts Gutes ahnen, zu weit ist es von unserem jetzigen Standort entfernt. Wir fahren los, haben aber nach wenigen hundert Metern schon wieder die Orientierung verloren, an keiner grossen Kreuzung findet sich ein Strassenschild. Das passiert mir sonst eigentlich nicht und nach einigem, sinnlosem Herumgekurve steuern wir in einem Vorort Tallinns eine Tankstelle an. Wieder sind wir von der Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Einheimischen begeistert.
Ein junger Russe - wie sich's herausstellt - zeichnet uns einen detaillierten Plan von seiner Tankstelle ausgehend. Er radebrecht ein paar Brocken Englisch. Wir können weder Estisch, eine verzwickt schwierige, finno-ugrische Sprache, noch Russisch und nach ausgedehntem Reden und Danksagungen mit Händen und Füssen unsererseits, folgen wir exakt der handgefertigten Karte und stehen tatsächlich nach langer und kurviger Strecke plötzlich an der Einfahrt zu unserem Hotel, pardon Hotell. Das hätten wir ohne Hilfe nie gefunden! Nach dem Einchecken betreiben wir noch etwas Moppedpflege und ich muss feststellen, dass meine Kette immer länger wird. Sie ist zwar noch nachzuspannen, aber mir schwant Übles.
Im Hotel essen wir sehr gut zu Abend und ein weiteres Vorurteil, das bezüglich der baltischen Küche, geht über Bord. Reiseführer liefern eben doch nur Anhaltspunkte, nie die gesamte Realität und die beschriebenen Horrormeldungen über estische Kochkünste können wir nun ins Reich der Fabel verweisen. Morgen wollen wir uns Tallinn in aller Ruhe anschauen, diese alte Hansestadt, die eine reiche Kultur und Architektur bietet. Der erste Eindruck jedenfalls war ein rundum positiver, einmal abgesehen von der miserablen Beschilderung.

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