Brig - Oberwallis
 

Freitag 24. September 1993

Eine unvergessliche Tour

Diese Tour sollte etwas Besonderes werden, man kann sagen in einem negativem Sinne wurde sie es. Zum ersten Mal war ich mit einer grösseren Gruppe als Organisator unterwegs in den Alpen.
Wir waren sieben Motorräder, eine Transe, zwei Duc, zwei XJ, eine K 100 und meine Wenigkeit mit einer GPZ 550. Bis auf zwei Bikes waren alle mit Sozia/Sozius bestückt, es war also eine recht grosse Gruppe, die sich auf eine schöne Alpentour freute, einige der schönsten Pässe standen auf dem Programm. Zwei Kollegen, die noch Dienst hatten, wollten Tags darauf in den Alpen am Gotthard zur Gruppe stossen.
Der Wetterbericht sagte für das Wochenende leider verhangenen Himmel und gelegentlichen Regen in den Alpen voraus, wir beschlossen dennoch zu fahren.
Am Nachmittag des 23.09.93 starteten wir von unserem Treffpunkt an der A 81 in Herrenberg gen Süden. Mit unseren Maschinen war ein zügiges Vorankommen kein Problem und bald überquerten wir in Konstanz die Grenze zur Schweiz. Hier begann leichter Nieselregen, der allerdings noch wenig störend war. Über Wil, Watwil erreichten wir nach Querung des Satteleggs, wo bereits Dauerregen herrschte, Schwyz und quartierten uns in ein kleines Hotel im Stadtzentrum ein. Ein lustiger Abend folgte.
Am nächsten Morgen standen wir in aller Herrgottsfrühe auf und, wie der Blick nach draußen befürchten liess, begann ein trüber Tag. Die Stimmung war trotzdem -noch- hervorragend, denn wir freuten uns auf die Alpen.
In leichtem Niesel ging es entlang des Vierwaldstättersees über Brunnen und die Axenstrasse Richtung Gotthard. Nachdem wir noch kurz telefoniert hatten (im Vor-Handy-Zeitalter), war der Treffpunkt mit den geplant Nachreisenden, die von Deutschland aus starteten, festgemacht.
Der Regen verschärfte sich nun, Dauerregen hatte eingesetzt und blieb konstant. Schnürlregen nennt man ihn wohl in Bayern. Kalt war es ausserdem. Am Urnerloch unterhalb von Andermatt schäumte die Reuss bereits in ihrem Bett, wie ich es vorher noch nie gesehen hatte: Bis zur Brücke spritzte die Gischt herauf. Nach einer kleinen Tankpause in Andermatt folgte der Aufstieg zum Oberalppass, hier herrschte auf der gesamten Passstrecke dichter Nebel, heftiger Regen und Kälte. Disentis und der Lukmanierpass glänzten ebenfalls mit heftigem Regen. Nicht einmal im südlich anmutenden Biasca war ein Entkommen aus der triefenden Nässe möglich.
Wir beschlossen bei einem wärmenden Kaffee den Wetterbericht genauer zu analysieren, um ggf. in den Süden und in die Sonne zu entweichen. Aber: Kein Entrinnen aus der Feuchte, bis zum Mittelmeer und nach Rom hinunter nichts als Regen. So wurde die schnelle Einkehr ins Quartier im Oberwallis beschlossen und die ursprüngliche Route über Locarno - Centovalli - Simplon - Brig über verworfen.
Gott sei Dank, wie es sich später herausstellte!
Hinter Biasca folgte jetzt ein ziemliches Gestochere im Nebel entlang des Ticino zurück nach Norden. Über den Nufenen sollte es ins Wallis gehen, so hatten wir es besprochen, da dies der kürzeste Weg war.
Im dichten Nebel brauchten wir unendlich lange für die eigentlich kurze Strecke von 37 Km an den Abzweig ins Val Bedretto. Dort, in Airolo, trafen wir auf eine deprimierende Beschilderung: Nufenen geschlossen. Na, wahrscheinlich liegt dort oben Schnee, so dachten wir, das ist ja nichts Aussergewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Aussergewöhnlich waren allerdings die gischtenden und mit Wucht ins Tal stürzenden Fontänen der zahlreichen Wasserfälle links und rechts der Strasse, die wir beobachten konnten. Überhaupt: Wo das Auge auch hinblickte, nichts als Wasser, Wasser, Wasser. Wir waren triefnass, alles durchweicht, die Regenkombis nützten nur noch marginal.
Eine Vignette hatte keiner von uns und der Gotthardpass war noch offen, wir beschlossen trotzdem den eigentlich kostenpflichtigen Tunnel zu fahren. Welche Labsal: Stinkend, verrusst, aber warm. Wenigstens teilweise abgetrocknet erreichten wir erneut Göschenen und Andermatt, hier rann das Wasser über Felsen und Wege, die Reuss tobte in ihrer Schlucht. Auf den Wiesen standen tiefe Seen. Langsam dämmerte es uns, dass da eine kleine Katastrophe im Gange war.
Dass es eine Grosse war, ahnten wir immer noch nicht.
Auf dem Weg zum Furkapass genügten wenige Kilometer und wir waren erneut pudelnass. Im Urserental trat die Reuss über die Ufer. Plötzlich musste ich bremsen: Mitten in der Strasse hatte sich ein Loch aufgetan und Wasser sprudelte durch den Belag nach oben heraus. Das muss man gesehen haben, sonst glaubt man es nicht.
Weiter oberhalb, in Realp, fuhrwerkte ein Polizist mit einem Schild herum: Der Furkapass wurde soeben geschlossen, eine Passage war uns daher nicht mehr möglich. Im Bahnhof von Realp stand aber ein Autozug der Furka-Oberalp-Bahn, der Autoverlad war also noch in Betrieb. Wir verteilten uns auf zwei Züge und erreichten wohlbehalten Oberwald im Goms. Hinter uns wurde auch der Zugverkehr eingestellt, die Strecken nach Andermatt waren jetzt sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene geschlossen, da die Reuss im Urserental das Gleisbett, Strasse und Brücken unterspült und fortgerissen hatte. Das wussten wir aber noch nicht. Genauso wenig konnten wir ahnen, dass unsere Nachzügler, die wir im Urserental eigentlich treffen sollten, im Dauerregen noch bis Göschenen gekommen waren und dort nun festsassen.
So fuhren wir weiter durch das Goms im Dauerregen bis Fiesch. Hier tauchte am Ortsrand eine Strassensperre auf und ein Beamter der Kantonspolizei forderte uns umgehend zur Einkehr in Fiesch auf, alle weiterführenden Strassen seien von hier ab gesperrt. Auf mein Nachfragen erklärte er recht fassungslos, dass die Stadt Brig untergegangen sei, der Ausnahmezustand sei verhängt worden, wie viele Opfer es gegeben habe, sei ihm nicht bekannt. Nach einer kurzen Erklärung, dass wir nur noch wenige Meter zu fahren hätten und in ein benachbartes Dorf wollten, liess er uns durchfahren. Wir überquerten die ungewöhnlich tobende Rhône auf der offensichtlich standhaften Brücke und waren Minuten später im Quartier am warmen Kachelofen.
Endlich trocken-, ein Gefühl, das wir schon nicht mehr zu kennen glaubten.
Im Radio verfolgten wir die weiteren Geschehnisse und begriffen langsam, dass wir durch die Abwandlung der Route in Biasca wahrscheinlich unser Leben gerettet hatten.

Nach drei Tagen war der Verbindungsweg via Oberwald wieder freigeschafft worden, von Menschen, die das unter Einsatz ihres eigenen Lebens möglich machten.
Im nachlassenden Niesel fuhren wir zurück nach Stuttgart, eine Tour, die uns unvergesslich bleiben wird, war überstanden.

Unsere ursprünglich geplante Route vom Tessin ins Wallis gab es nicht mehr. An der Südflanke des Simplon war die Strasse weggerissen, Brücken waren weggespült worden. Im Tessin und im Piemont waren Felsstürze, Murgänge und Überflutungen zu verzeichnen, Strassen waren weithin unpassierbar. Das gesamte Wallis und weite Teile der Alpen wurden Katastrophengebiet.

Besonders hatte es aber Brig getroffen, das kleine, wohlhabende und schmucke oberwalliser Städtchen, durch das wir zum Katastrophenzeitpunkt eigentlich fahren wollten, ging innerhalb von Minuten in Schutt und Schlamm unter.......


Chronik einer Katastrophe


Es ist kurz vor 16:00 Uhr, in Brig ist die Saltina, ein normalerweise kleiner Bach, gefährlich angeschwollen. Sie trägt Geröll und anderes Geschiebe mit sich, das sich an einer Brücke verfängt und den tobenden Wildbach weiter aufstaut. Versuche, den Aufstau an der Brücke Richtung Brig-Glis mit schwerem Gerät zu beseitigen, scheitern. Als die schäumende Saltina in die Stadt schwappt, müssen sich die hilflosen Helfer selbst aus Lebensgefahr retten. Der rasende Wildbach führt Tonnen von Material pro Minute mit sich. Anfangs läuft nur ein kleines Rinnsal die Bahnhofstrasse hinunter, nach wenigen Minuten tobt die Vernichtung durch die Stadt. Für Warnungen bleibt keine Zeit mehr. Die Schule ist soeben aus.

80 Kubikmeter Wasser und 1,5 Tonnen Geröll, Schlamm und anderes Geschiebe wälzen sich pro Sekunde in die Stadt!


Die Überflutung....

....mit ungeheurer Wucht

Am Tag danach: Bis in den ersten Stock Schuttmassen

Aufräumarbeiten in der....


....beinahe zerstörten Stadt. Der bereits teilweise geräumte
Bahnhof der Brig-Visp-Zermatt- und Furka-Oberalp-Bahn.


Das war von 'unserer' Simplonroute....

....übrig geblieben

Die Katastrophe forderte zwei Menschenleben, ein Wunder, wenn man das Ausmass der Zerstörungen betrachtet. Es entstand ein Sachschaden von rund 600 Millionen Franken allein in Brig. Die Stadt wurde wieder aufgebaut, sie hat aber ihren ursprünglich südländischen Charme in der Innenstadt nicht wieder erlangt.

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